Sind pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen ein Zukunftsmodell?

Ein Paradigmenwechsel in der öffentlichen Verwaltung

In einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt und in der Bürger zunehmend digitaler und vernetzter leben, passen sich auch die öffentliche Verwaltung immer weiter an. Deutschland hängt zwar weiterhin anderen Ländern hinterher (YouTube-Video), aber es kommt viel in Bewegung. Pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen markieren hierbei einen signifikanten Fortschritt gegenüber dem herkömmlichen, antragsbasierten Ansatz. In diesem Beitrag erforschen wir, was pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen sind, wie sie sich vom aktuellen System in Deutschland unterscheiden und warum sie trotz der befürchteten Mehrkosten eine effiziente und zukunftsfähige Lösung darstellen.

Los geht’s.

Was sind pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen?

Pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen stellen einen innovativen Ansatz in der öffentlichen Verwaltung dar, der sich grundlegend von traditionellen, reaktiven/antragsbasierten Leistungen unterscheidet. Bei diesem Ansatz liegt die Initiative bei der Verwaltung und nicht bei den Bürgern. Hier wird ein Paradigmenwechsel vollzogen: Statt auf die Antragsstellung der Bürger zu warten, werden vorhandene Daten genutzt, um Bedürfnisse aktiv zu identifizieren und entsprechende Dienstleistungen gezielt anzubieten oder zumindest darüber zu informieren.

Dieser Ansatz basiert auf der Idee, dass die Verwaltung durch die Analyse von Daten Mustern und Bedarfen nachkommen kann, noch bevor die Bürger selbst aktiv werden. Beispielsweise können durch die Verknüpfung verschiedener Datenquellen wie Einwohnermeldeämter, Steuerbehörden und soziale Einrichtungen potenzielle Ansprüche auf bestimmte Leistungen wie Kindergeld, Sozialhilfe oder Bildungsförderungen automatisch erkannt werden.

Ein konkretes Beispiel ist die automatische Ausstellung von Kindergeld. Anstatt dass Eltern nach der Geburt ihres Kindes verschiedene Formulare ausfüllen und bei der zuständigen Behörde einreichen müssen, ja sogar die Existenz des Kindes “nachweisen” müssen, identifiziert das System der pro-aktiven Verwaltung die Geburt eines Kindes anhand der Daten aus dem Standesamt, ausgelöst vom Kranken- oder Geburtshaus. Daraufhin initiiert die Verwaltung selbstständig den Prozess zur Gewährung des Kindergeldes. Die Eltern erhalten eine Benachrichtigung über ihren Anspruch und das Kindergeld wird ohne weiteres Zutun ausgezahlt.

Diese Art der Dienstleistung reduziert nicht nur den bürokratischen Aufwand für die Bürger, sondern verbessert auch die Effizienz und Schnelligkeit, mit der Verwaltungsleistungen erbracht werden. Zudem ermöglicht es eine gerechtere Verteilung von Leistungen, da es sicherstellt, dass alle Anspruchsberechtigten ihre Leistungen erhalten, auch wenn sie vielleicht nicht über das Wissen oder die Mittel verfügen, einen Antrag zu stellen.

Vorteile von pro-aktiven Verwaltungsdienstleistungen

  1. Effizienzsteigerung: Durch Automatisierung und Wegfall redundanter Antragsprozesse werden Ressourcen gespart und Prozesse beschleunigt. Auch Nachforderungen und, dass Behörden gegenseitig aufeinander warten, wird reduziert.
  2. Erhöhte Bürgerzufriedenheit: Bürger profitieren von einem nahtlosen, benutzerfreundlichen Service, der ihnen Zeit und Aufwand erspart.
  3. Gerechtigkeit: Durch den pro-aktiven Ansatz wird sichergestellt, dass niemand aufgrund von Unwissenheit oder Zugangsbarrieren von Leistungen ausgeschlossen wird.
  4. Datenbasierte Politikgestaltung: Die Verwaltung erhält bessere Einblicke in den Bedarf und kann ihre Dienstleistungen entsprechend anpassen.
  5. Planbarkeit: Antragsstau und saisonal oder „plötzlich“ hohe Antragszahlen werden weitgehend ausgeschlossen.

Kosteneffekte und Beispiele Trotz der Befürchtung höherer Kosten durch die pro-aktive Bereitstellung von Leistungen zeigen Beispiele wie Estland, dass die langfristigen Einsparungen und Effizienzgewinne diese Kosten überwiegen. In Estland beispielsweise hat die digitale Transformation der Verwaltung zu erheblichen Einsparungen geführt, indem sie Dienstleistungen vereinfacht und automatisiert hat. Dort können Bürger 99% der Verwaltungsdienstleistungen online erledigen (nur Heirat und Scheidung erfordert die physische Präsenz). Damit ist dort, anders als in Deutschland, auch nicht nur die Online-Antragstellung gemeint, sondern das gesamte Verwaltungsverfahren, also auch alle internen Prozesse und die Bürger-Kommunikation.

Herausforderungen und Kontroversen: Ein kritischer Blick auf pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen

Obwohl pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen viele Vorteile mit sich bringen, werfen sie auch eine Reihe von Herausforderungen und Kontroversen auf, die einer sorgfältigen Betrachtung bedürfen. Diese reichen von Datenschutzbedenken bis hin zu finanziellen und strukturellen Herausforderungen bei der Implementierung.

1. Datenschutz und Sicherheit der Bürgerdaten:

Da dieser Ansatz auf der Nutzung vorhandener Daten beruht, um Dienstleistungen anzubieten und Bedürfnisse zu identifizieren, besteht die Sorge, dass dies zu einer übermäßigen Sammlung und Analyse von Bürgerdaten führen könnte. Kritiker argumentieren, dass eine derart umfassende Datennutzung potenziell invasive Überwachungspraktiken begünstigen und zu unerwünschten Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger führen könnte. Fragen nach der Einwilligung der Bürger zur Datennutzung und nach den Grenzen der Datenverarbeitung sind darum zentrale Punkte in dieser Debatte und müssen technisch grundlegend implementiert werden.

2. Ethik der automatisierten Entscheidungsfindung:

Wenn Algorithmen verwendet werden, um zu bestimmen, wer auf welche Dienstleistungen Anspruch hat, besteht das Risiko von Verzerrungen und Ungerechtigkeiten. Die Gefahr besteht, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen durch die algorithmische Entscheidungsfindung benachteiligt werden könnten, insbesondere wenn diese Algorithmen auf unvollständigen oder verzerrten Datensätzen basieren.
Gleichzeitig müssen Ermessensspielräume genutzt & ausgeschöpft werden und individuelle Entscheidungen – wo vorgesehen – dennoch möglich sein.

3. Finanzielle und strukturelle Herausforderungen:

Die Implementierung eines pro-aktiven Verwaltungsansatzes erfordert erhebliche Anfangsinvestitionen sowie eine tiefgreifende Umstrukturierung bestehender Systeme und Prozesse. Dies beinhaltet die Entwicklung und Implementierung fortschrittlicher IT-Systeme, die Schulung von Mitarbeitern und die Schaffung neuer administrativer Abläufe. Für viele Behörden kann dies eine finanzielle und logistische Herausforderung darstellen, insbesondere in einem Umfeld begrenzter Ressourcen und starrer bürokratischer Strukturen.

4. Akzeptanz und Vertrauen der Bürger:

Um erfolgreich zu sein, müssen solche Systeme das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und Bedenken hinsichtlich Transparenz, Fairness und Kontrolle über persönliche Daten adressieren. Die Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Daten sicher sind und ethisch verantwortungsvoll genutzt werden.
Bürger müssen ebenfalls darauf vertrauen können, dass die Verwaltungsvorgänge fehlerfrei ablaufen, weil sie durch ihre eigene Passivität weniger Kontrolle ausüben. Die Heilung aufgefallener Fehler sowie das Einlegen von Rechtsmitteln müssen ebenso pro-aktiv gestaltet werden und zu den Grundprinzipen gehören.

Welche technischen Voraussetzungen sollte es geben

Je nach Ausbaustufe werden unterschiedliche Voraussetzungen sichtbar. Sollen (zunächst) nur einzelne Dienstleistungen pro-aktiv gestaltet werden, müssen diese jeweils einzeln den Bürgern geöffnet werden und die Fachabteilungen durchgängig digitalisiert werden. Wichtig zu beachten ist dabei, dass ein schlechter analoger Prozess auch ein schlechter digitaler Prozess ist. Change-Management und Änderungswille sind darum dennoch Grundlegend.

Möchte man pro-aktive Verwaltungsleistungen flächendeckend, verwaltungsübergreifend und dienstleistungsübergreifend implementieren, erfordert dies dann eine deutlich umfassendere technische Integration. Länder wie Estland oder Singapur lösen dies mit Systemen, in dem Bürger alle relevanten Informationen bereitstellen und einsehen können, während Behörden Zugriff auf diese Daten erhalten.

Technische Voraussetzungen:

  1. Zentrales Bürgerportal: Eine Schlüsselkomponente ist ein zentrales Online-Portal, auf dem Bürger ihre persönlichen Daten verwalten und Behörden Zugriff gewähren können. Dieses Portal muss eine starke Authentifizierungsfunktion haben, um die Identität der Nutzer zu verifizieren, zu schützen und zu garantieren.
  2. Transparenz und Nachverfolgbarkeit: Das System muss so gestaltet sein, dass Bürger jederzeit einsehen können, welche Behörde aus welchem Grund auf ihre Daten zugegriffen hat. Dazu gehört ein detailliertes Protokollierungssystem, das jeden Datenzugriff dokumentiert. Unerlaubte Nutzung muss direkt an zuständige Stellen gemeldet werden können.
  3. integrierte Datenverarbeitung: Um pro-aktive Dienstleistungen zu ermöglichen, müssen existierende Fachanwendungen sicher auf die Bürgerakten zugreifen können, um dort Daten abzurufen und abzulegen. Diese Fachanwendungen müssen diese Integration garantieren und deren Software-Entwickler dazu verpflichtet werden, sowie dauerhaft für deren Aktualität sorgen.

Betrachtung internationaler Beispiele für pro-aktiven Verwaltungsdienstleistungen

Die Einführung pro-aktiver Verwaltungsdienstleistungen hat weltweit in einigen Ländern bereits bemerkenswerte Erfolge erzielt. Hier beleuchten wir ausführlicher, wie Estland, Finnland und Singapur diesen Ansatz umgesetzt haben und welche Auswirkungen dies auf die Effizienz der öffentlichen Verwaltung und die Zufriedenheit der Bürger hatte.

  1. Estland: Digitalisierung als Standard Estland gilt als eines der fortschrittlichsten Länder in Bezug auf die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Der estnische Ansatz konzentriert sich stark auf die Nutzung von E-Government-Lösungen, um Dienstleistungen effizienter zu gestalten. Beispielsweise werden Geburtsurkunden automatisch ausgestellt und Kindergeld wird ohne formellen Antrag der Eltern gewährt. Diese Prozesse werden durch eine umfassende digitale Infrastruktur ermöglicht, die auf einem sicheren Identifikationssystem auf Grundlage des Personalausweises basiert. Gleichzeitig dient der Personalausweis als Krankenkarte, Führerschein, ÖPNV-Ticket und Vieles mehr. Die Effizienzgewinne sind beachtlich und werden auch ermöglicht, weil die Verwaltung bereits vollständig digitalisiert wurde.
  2. Finnland: Automatisierte Sozialleistungen Finnland hat sich darauf konzentriert, bestimmte soziale Leistungen automatisch zu gewähren, um die Effizienz und Gerechtigkeit im Wohlfahrtssystem zu erhöhen. Wenn ein Bürger oder eine Bürgerin bestimmte Kriterien erfüllt – beispielsweise in Bezug auf Einkommen, Familienstand oder Arbeitsstatus –, werden Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld oder Studienbeihilfen automatisch ohne Antragsstellung gewährt. Dieses System reduziert nicht nur den Verwaltungsaufwand erheblich, sondern stellt auch sicher, dass Bürger nicht aufgrund von Unkenntnis oder Zugangsbarrieren von den Leistungen ausgeschlossen werden.
  3. Singapur: Informationsgesteuerte Dienstleistungen Singapur setzt auf ein fortschrittliches, informationsgesteuertes System für seine pro-aktiven Verwaltungsdienstleistungen. Die Behörden nutzen Daten, um Bürger proaktiv über relevante Dienstleistungen zu informieren und sie bei Bedarf bei der Beantragung zu unterstützen. Beispielsweise werden ältere Bürger automatisch über ihnen zustehende Gesundheitsleistungen informiert, oder Eltern erhalten Informationen über verfügbare Bildungsprogramme für ihre Kinder. Dieser Ansatz ermöglicht nicht nur eine personalisierte und effiziente Dienstleistung, sondern verbessert auch die Zugänglichkeit und das Bewusstsein für verfügbare staatliche Unterstützungen.

Pro-aktive Schülerbeförderung mit VIA und myVIA von Stadt.Land.Netz

Städte und Landkreise können mit unseren System zumindest die Schülerbeförderung pro-aktiv gestalten. Auch wenn das bislang eher die Ausnahme ist, sind die technischen Möglichkeit gegeben und das Interesse wächst:

  • Anbindung aller Datenquellen: VIA kann sich nahtlos in jede IT-Infrastruktur einbinden lassen und ist in der Lage Informationen von unterschiedlichsten Datenquellen zu beziehen.
    • Schuldatenbanken: zum automatischen Synchronisieren aller Schüler der jeweiligen Schulen.
    • Einwohnermeldeauskunft: zum Prüfen, ob Daten in den Schuldatenbanken mit dem Melderegister übereinstimmen und zum automatischen turnusmäßigen Datenabgleich, um Umzüge etc. zu erkennen.
    • Fahrplanauskünfte: zum Ermitteln der ÖPNV-Verbindungen, sowie der korrekten Fahrkarten und deren Preisen.
    • Haushaltsprogramme: zum Auszahlen von Erstattungsansprüchen und Rechnungen.
    • Abo-Verwaltungen: bei den Verkehrsunternehmen zum Bestellen und Stornieren von Fahrkarten.

  • ÖPNV AnspruchsprüfungAnspruchsprüfung:
    • Mindestentfernung
    • gefährliche Schulwege
    • nächstgelegene/zuständige Schule
    • ÖPNV-Zumutbarkeit
  • Automatisierungs-Tools
    • Erstellen von Workflows: Damit kann man in VIA Arbeitsabläufe Ereignis-basiert aufrufen und auch komplexe Vorgänge automatisieren.
    • Erweiterung des Datenmodells: Damit kann die VIA-Datenbank dynamisch an die Datenquellen und Datenempfänger angepasst werden.
    • Kommunikation: durch die Anbindung an die BUND-ID, oder das automatische Erstellen von E-Mails und Dokumenten, können Bürger*innen direkt über Fortschritte und Entscheidungen informiert werden.

Natürlich ist dies ein große Aufwand, der sich aber bereits nach kurzer Zeit lohnen kann.

Für alle Landkreise und Städte, die die Schülerbeförderung nicht pro-aktiv gestalten wollen oder können, haben wir dann myVIA zur Verfügung. Hier müssen Eltern zwar Anträge noch selbst stellen, allerdings profitieren sie von der gleichen automatischen Antragsprüfung, sowie der sonstigen Integrierbarkeit von VIA und myVIA.

Fazit

Pro-aktive Verwaltungsdienstleistungen sind möglich und bieten großes Potential für die Verwaltungen und Bürger gleichermaßen. Auch wenn deren Implementierung aufwendig ist, zeigen Länder wie Estland und Finnland aber auch Fortschritte bspw. in Frankreich oder Spanien, dass es möglich ist.

Besonders vor dem Hintergrund der alternden Belegschaft in der Verwaltung und den steigenden Ansprüchen der Bürgerschaft, sollte man bei Digitalisierungsprojekten nicht nur analoge Prozesse in Digitale übersetzen, sondern gleich Prozesse völlig hinterfragen.


Bildnachweis: OpenAI, Dall-E „Digitale Verwaltung, Schulbus, Blau 1920 x 1200px“

Unsere Anwendung VIA hilft Ihnen bei allen Aufgaben der kommunalen Schülerbeförderung
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Kostenerstatter

Über den Autor

Lars Lehmann

Lars Lehmann ist Mitgründer und Geschäftsführer bei Stadt.Land.Netz. Er hat zehn Jahre in verschiedenen Positionen regionaler Behörden gearbeitet und verantwortet die Bereiche Produkt und Entwicklung bei SLN.

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